Patrick Greaney, Nachwort zu Covertext: Anmerkungen zu Konzeptualismen
In diesem ersten Manifest der US-amerikanischen Avantgarde des 21. Jahrhunderts wird eine Revolution ausgerufen, aber eine ganz ruhige. Das konzeptuelle Schreiben ist trotz des manchmal provozierenden Tons einiger Befürworter—die (ironisch?) das Ende des Lesens und der Kreativität von allen Dächern erklären—vielleicht nichts anderes als der eher nüchterne Versuch einiger zeitgenössischer Schriftsteller, auf jene Fragen einzugehen, mit denen Michel Foucault seinen Vortrag „Was ist ein Autor?“ beendet: „Was sind die Existenzweisen eines Diskurses? Wo wurde er gehalten, wie kann er zirkulieren und wer kann ihn sich aneignen? Welches sind die Plätze, die für möglichen Subjekte vorgesehen sind? Wer kann diese unterschiedlichen Subjekt-Funktionen ausfüllen“? Als eine Reihe möglicher Antworten auf diese Fragen können die konzeptuellen Praktiken betrachtet werden, denen sich Robert Fitterman und Vanessa Place in Covertext: Anmerkungen zu Konzeptualismen widmen.
Der Name dieser Bewegung täuscht: Sie entlehnt ihre Praktiken nicht nur der Konzeptkunst, sondern auch der konkreten und visuellen Poesie, der Pop Art, Oulipo, der Institutionskritik und der postkonzeptuellen Kunst. In ihren eigenen literarischen Texten bevorzugen Fitterman und Place die Appropriation. Fitterman zitiert in seinem Holocaust Museum die Bildlegenden des Fotoarchivs des Washingtoner National Holocaust Museums, ohne die Fotos abzubilden, und in seinem Gedicht „Directory“ kopiert er die Liste der Läden in einem Einkaufszentrum. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet Place als Pflichtverteidigerin für Sexualstraftäter in Berufungsverfahren, und in einer Art Selbstappropriation hat sie in der dreibändigen Tragodía ihre Berufungsbegründungen als literarische Texte veröffentlicht. In einer anderen Serie hat sich Place den Roman Vom Winde verweht angeeignet. In ihrem Twitter-Feed liefert sie den ganzen Text in Tagespensen von zehn Tweets, und sie hat ihn auch in Buchform als ihr eigenes Werk veröffentlicht, indem sie nur zwei kleine Veränderungen vornahm: Neben der Ersetzung des Namens der Autorin ließ sie alle Wörter, die mit den Sklaven zu tun haben, fett drucken.
In all diesen Texten ist es unmöglich zu entscheiden, ob sie sich auf eine Wirklichkeit (auf das wirkliche Foto und das wirkliche historische Ereignis in Holocaust Museum, auf den gerichtlichen Fall in Tragodía) beziehen oder ob sie sich einer rein literarischen, von der Referenz gereinigten Sprache bedienen. Die Sprache ist in konzeptuellen Texten gleichzeitig durchsichtig und opak, Kommunikationsmittel und Abwehr jeder Instrumentalisierung.
Diese Gleichzeitigkeit verdankt sich dem allegorischen Charakter des konzeptuellen Schreibens. Nach Fitterman und Place deutet die Allegorie auf eine leere, immer wieder neu besetzbare Stelle, was am deutlichsten dort hervortritt, wo konzeptuelle Texte nur aus Zitaten bestehen. In einem Zitat wird nicht nur die Zitatquelle zitiert, sondern auch die Wiederholbarkeit des Zitierens. Eine zitierte Textstelle—oder ein gänzlich zitierter Text—kann immer wieder und immer anders zitiert werden. Im Winde verweht darf von sich aus keine Eindeutigkeit beanspruchen; in der Bibliothek eines Ku Klux Klan-Ritters funktioniert der Roman anders als im Twitter-Feed einer konzeptuellen Schriftstellerin. Wenn Heimrad Bäcker Zahlen aus den Protokollen der Nürnberger Prozesse in seiner nachschrift (die von Fitterman und Place in ihrer 12. These als exemplarischer konzeptueller Text angeführt wird) zitiert, müssen sie anders gelesen werden, als wenn sie als Daten in einem Dachauer Experiment von Dr. Sigmund Rascher vorgestellt werden. „[E]ine Bedeutung, einen Sinn auszustrahlen, ist er [der allegorische Gegenstand] ganz unfähig; an Bedeutung kommt ihm das zu, was der Allegoriker ihm verleiht. Er legt’s in ihn hinein und langt hinunter: das ist nicht psychologisch sondern ontologisch hier der Sachverhalt. In seiner Hand wird das Ding zu etwas anderem, er redet dadurch von etwas anderem und es wird ihm ein Schlüssel zum Bereiche verborgenen Wissens, als dessen Emblem er es verehrt“ (Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels).
Dieses „verborgene Wissen“ entsteht im Gang der Betrachtung und in der Teilnahme am unabschließbaren Prozess des allegorischen Schreibens, in dem ein Text oder eine Textstelle sich von sich selbst unterscheidet; es ist ein praktisches Wissen um den Umgang mit der Differenz und der Wiederholung und um die Unerschöpflichkeit des allegorisierten Textes. In der De- und Rekontextualisierung wird im allegorischen Text eine Kapazität zum Anderswerden erweckt, die es schon im Original geben musste. Das Zitat ermöglicht eine Rückkehr zum Ursprung, in dem nichts abgesichert ist, nicht einmal das zitierte Original und dessen tradierte Bedeutung. Das ist das verborgene Wissen des allegorischen Schreibens: das Wissen um wiederholbaren und verwandelbaren Ursprung. Das alles ist im Spiel bei der „radikalen Mimesis“ des konzeptuellen Schreibens, wie es Fitterman und Place in ihrer zweiten These charakterisieren.
Das allegorische Schreiben ist daher als ein historisches und zugleich historisierendes Schreiben zu betrachten, und hier gibt es einen Bezug zu den geschichtsphilosophischen Schriften Foucaults. In seinem Vortrag „Was heißt Kritik?“ beschreibt Foucault seine Methode als „événementialisation“. In einer solchen „Ver-ereignis-ung“ wird das zum Ereignis, was natürlich oder selbstverständlich erscheint–-d.h. es wird geschichtlich. Als Ereignisse verlieren Texte und Begriffe ihre Natürlichkeit und sind in einen Bereich gesetzt, der für Foucaults Zugangsweisen und Wissenschaftstheorie grundlegend ist: als „Zone der Möglichkeit und der möglichen Umkehrung“. Alles soll in Foucaults Untersuchungen anders werden können. Er kehrt zu den Anfängen des modernen Denkens zurück, um zu zeigen, dass es mit ihm auch anders hätte sein können.
Wenig beachtet bei Foucaults Lesern ist seine Bevorzugung des Zitats als genealogisches Werkzeug. In seinen letzten Lebensjahren hat Foucault als Einzel- oder Mitherausgeber fast mehr Textsammlungen als eigene Bücher veröffentlicht: Herculine Barbin, Pierre Rivière und Familiäre Konflikte. Dazu entwickelte er im Essay „Das Leben der infamen Menschen“ eine Theorie der „frugalen Lyrik des Zitats“, die die „Intensität“ von geschichtlichen Quellen wiedergeben würde.
Konzeptuelle Schriftsteller verwalten ihr Textmaterial mit dem gleichen Ziel wie Foucault, wenn er seine Quellen zitiert: das Aussetzen der Selbstverständlichkeit der Gegenwart. Fitterman und Place schließen ihre „Notizen“ (so der Titel im Original: Notes on Conceptualisms) mit Überlegungen über das Scheitern ab, das in konzeptuellen Texten als das Fehlen der Gegenwart und vor allem als das Fehlen der Selbstgegenwart erscheint. „I have failed miserably—over and over again“ (3b). Dieses Scheitern ist produktiv, weil dabei eine Selbstdifferenz entsteht, die Geschichte und Vervielfältigung der Bedeutung ermöglicht. Deswegen wenden sich Fitterman und Place in ihrer letzten These der „Möglichkeit der Möglichkeit“ zu.
Aus diesem Grund wird bei der Lektüre ihrer fragmentarischen Thesen oft ein Zweifel geweckt. Denn ist Covertext eine Sammlung von Beobachtungen einer schon existierenden Literatur? Oder sammelt es nicht vielmehr Notizen zu einer künftigen? Diese Aporie—Beschreibung oder Prolepse?—deutet auf das Scheitern dieses Manifests, auf seine Unfähigkeit, dem konzeptuellen Schreiben adäquat und gleichzeitig zu sein. Das konzeptuelle Schreiben ist offen (4: „capable of including pre- or post-textual associations“) und Covertext auch. Fitterman und Place zielen nicht darauf, den Konzeptualismus als Bewegung oder Gruppierung zu konsolidieren und gegen Vorgänger und Konkurrenten abzugrenzen: „Conceptual writing may differ from ist others insofar as it does not create a single voice or thematic constant from its constituent bits. Conceptual writing also may not differ from its others in any significant respect“ (10a). Es bleibt nach der Lektüre dieser Sätze und eigentlich auch nach der Lektüre dieses Buches eine irritierende Frage: was ist der Konzeptualismus? Fitterman und Place haben keine Antwort anzubieten. In diesem Manifest findet man—so Fittermans Vorwort—nur „a purposefully incomplete starting place“, nur „Ideen“. Was sollen die LeserInnen damit tun? Im letzten Satz des Bandes sagt uns Place genau, was wir damit tun sollen: „Use them all“.