Vom Lesen, Schreiben und den Konzepten

Swantje Lichtenstein

 

“Sicher werden sich nicht wenige Leser nach der Lektüre des vorstehenden Beitrages fragen, ob dieser Umgang der Künstler mit gedruckten Büchern seinen Sinn und seine Berechtigung hat. Auch in der Redaktion war man sich nicht einig, wie diese neue Tendenz im Buchdruck zu bewerten ist. Informationsbedürfnis hielten sich mit Verwunderung und Widerspruch die Waage. Dem Informationsbedürfnis ist der Vorrang gewahrt worden.”

 

Anmerkung der Redaktion zum Beitrag von Annette Gilbert „Alles nur geklaut? Zu einer neuen Kunst des Büchermachens in der gegenwärtigen Kunst und Literatur“, in den Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie (4) 2011, 55-63.

 

In Paris fragte man mich im letzten Jahr bei einem Festival zur Experimentellen Literatur (&NOW 2012) an der Sorbonne, wie bekannt Heimrad Bäcker im deutschsprachigen Raum sei, ich sagte, ich bedauerte sehr, er sei nicht sonderlich bekannt, eine großangelegte Ausstellung wie sie Ende September 2013 in Denver eröffnete, in einem Museum für zeitgenössische Kunst zumal, suche man wohl in Deutschland vergeblich. Heimrad Bäcker ist in der transnationalen Welt des konzeptuellen Schreibens ein häufig genannter Name, eine wichtige Referenz, ebenso wie die Oulipo-Bewegung in Frankreich, die konkrete Poesie, die Konzeptkunst, Dada oder Fluxus etc.

 

Das konzeptuelle Schreiben ist eine künstlerisch-ästhetische Praxis, die die eigene Prozess- sowie Dinghaftigkeit zum Anlass nimmt, zum Thema des Schreibens macht, bzw. die nicht denkbar ist ohne Kontextualisierungen. Als solches ist es vielmehr die Möglichkeit eines Anfangs und Vollzugs, um über die Weiterführung ästhetischer, schriftlicher Produktionsprozesse nachzudenken.

 

Es geht dabei weniger um Poetologie-Praxis (auch nicht als Auto(r)poetik) oder einen vereinbarten, theoretischen Referenz- oder Sekundärdiskurs, vielmehr ist die konzeptuelle Schreibpraxis selbst zugleich der Sekundärtext, ist Kommentar des Kommentars in einer Zeit der Bedürftigkeit nach dem Kommentar, nach dem Miteinander, der digitalen Gemengelage im Urwald urheberrechtlicher Verrufe und vertragsbildender Maßnahmen.

 

Um 2007 traf ich die ersten Künstler, die sich als konzeptuell Schreibende bezeichneten (beim Sound Eye-Festival in Cork, Irland). Ich war selbst zunächst skeptisch, befand, es gäbe doch die Konzeptkunst, die sich ja selbst in vielen Fällen auf Text beruft, auf Begriff und einen schriftlichen Plan. Was anderes sollte das konzeptuelle Schreiben sein? War nicht jedes Schreiben in gewisser Weise konzeptuell? Was könnte einen konzeptuellen Autor von einem konzeptuellen Künstler unterscheiden? Wer sprach, wer schrieb, wer brach sich das Genick? Was aber zum Teufel mit diesem ewigen Originalitätsanspruch, den Literatur sehr brav beibehielt und wodurch sie sich so sehr unterschied von anderen zeitgenössischen Künsten. usf.

 

Aus diesen Überlegungen entstanden Diskussionen mit Künstlern und Literaten über die Positionen, von denen diese ausgingen. Aus den Quellen und Einzelschicksalen wurde rasch deutlich, dass sich die Rede vom konzeptuellen Schreiben vor allem zu einem eignete: Ins Gespräch über ein zeitgenössisches literarisches und künstlerisches Arbeiten zu kommen, in der digitalen, durchkapitalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, in der wir alle leben und schreiben. In der Suchmaschinen und Online-Lexika, Soziale Medien, unsoziale Kommentare, narzissmusverdächtige Tweets, Videos, Bildmaterial und Blogs, contentneutrale Plattformen und andere Sichtbarkeiten ein ständiger Begleiter am Schreibort, also am Bildschirm, also als Gegenüber verfügbar sind. In der Vervielfältigung und Schreibmassen den eigenen knappen Schreibeinheiten entgegenstanden und alles kopierbar, einsetzbar, mischbar, neu sortierbar wird.

 

Beim konzeptuellen Schreiben kann man von einer globalen, literarischen Bewegung sprechen, die v.a. in den Ländern als kritische Position aufkam, in denen Studiengänge im Bereich Creative Writing seit langem im Ausbildungsbetrieb an den Hochschulen eine große Rolle spielt. Dies ist hierzulande noch lange nicht der Fall, hier schleicht sich erst nach und nach die konzeptuelle Literatur und das konzeptuelle Schreiben ins Bewußtsein, sei’s durch theoretische Ansätze und Anthologien wie von Vanessa Place/Robert Fitterman Notes on Conceptualisms (vgl. Covertext. Anmerkungen zu Konzeptualismen) oder Craig Dworkin/Kenneth Goldsmith (vgl. Against Expression) oder Kenneth Goldsmith (vgl. Uncreative Writing) sowie durch die große Dame des englischsprachigen Poesie-Diskurses Marjorie Perloff, die sich ebenso in einer ausgeweiteten Form bereits mehrfach mit dem Thema auseinandergesetzt hat und rezipiert wird (vgl. Unoriginal Genius).

 

Konzeptuell schreiben befasst sich in allen Fällen mit der Infragestellung der Materialität, von Zitat und Originalität in der künstlerischen Produktion im 21. Jahrhundert und in einer Verbindungslinie von theoretischen Positionen und praktischer Ausübung von Kunst, mit welchem Material auch immer. Das Produkt selbst ist hierbei, wie bei der Konzeptkunst der 1960er Jahre nicht primäres Ziel, vielmehr selbst wieder Ausgangsbasis für neue Konzepte und Konzeptionen. Konzeptuell zu schreiben, heißt sich Regeln auferlegen, die Originalität zu hinterfragen und die Materialität von Sprache im zeitgenössischen Schreiben mit dem Schreiben zu untersuchen. Ob das Lesen dabei wichtig ist, bezweifelt einer der Gallionsfiguren des konzeptuellen Schreibens Kenneth Goldsmith: „Man braucht meine Bücher wirklich nicht zu lesen, um sie zu verstehen; man muss nur das allgemeine Konzept erkennen.“ Das Schreiben kommt vor dem Lesen und die Idee vor dem Produkt. So formulieren einige der konzeptuellen Autoren. Andere, wie Vanessa Place und Robert Fitterman, stellen die politische Dimension des Schreibens im Literatur- und Kunstbetrieb in den Vordergrund ihrer Überlegungen zum konzeptuellen Schreiben.

 

Konzeptuelles Schreiben ist durch die selbstauferlegten Restriktionen beschreibbar und hinterfragbarer als ein „originelles Schreiben“. Natürlich setzen sich theoretische Diskurse auch durch mediale Vernetzungen durch, wie Flarf(1) oder Erasures(2), die als einfache Formen des konzeptuellen Schreibens in literarischen Zirkeln auch hierzulande rasch an Beliebtheit gewannen, in literarischen Zirkeln, an Schulen und Hochschulen. Der andere Einflussbereich des deutschsprachigen konzeptuellen Schreibens kommt aus der bildenden Kunst, die insgesamt globaler aufgestellt ist, als die immer noch vor allem nationalsprachlich organisierte Literatur. U.D. Bauer, Michalis Pichler, Romy Rueger, Susann Körner und Natalie Czech arbeiten künstlerisch mit Texten in literarisierter Form, sie agieren künstlerisch auf die Materialität des Textes bezogen und teilen eine Ausbildung an Kunstakademien. Sie sind als erste Gruppe mit konzeptuellen Formen umgegangen, verwenden den Begriff zumeist selbst oder in abgewandelter Form und arbeiten z.T. auch gemeinsam an Texten und Bildern.

 

Hinzukommen Autorinnen und Autoren, die man konzeptuell nennen könnte, ohne dass sie es selbst tun würden. Hierbei sind Schreibende zu nennen, die von der Sprachmaterialität her kommen und sich selbst auferlegte Regeln stellen, so wie beispielsweise Elke Erb Fünf Minutengedichte, Stolterfohts Fachsprachen, F.-J. Czernins Metamorphosen-Katalog und andere.

 

Die dritte, auszumachende Gruppe von Autorinnen und Autoren, die als konzeptuell arbeitend bezeichnet werden können, gehören zu denjenigen, die avanciert experimentell arbeiten und am zeitgenössischen Kunst- und Literaturdiskurs interessiert und damit auch Strömungen aus den anderen Künsten und in einem globaleren Kontext. Sie nehmen sie auf und bearbeiten sie weiter, jedoch selten mit einer Entscheidung für ein konzeptuelles Schreiben, sondern der Erweiterung des Schreibens durch konzeptuelle Schreibweisen, die aber neben anderen Formen experimentellen Schreibens stehen. Hierzu gehören im deutschsprachigen Raum Uljana Wolf, Norbert Lange, Mathias Traxler, Bertram Reinecke, Alexander Gumz, Mara Genschel, Shane Anderson, Jan Skudlarek und einige andere.

 

Dabei eignen sich die konzeptuellen Schreibweisen vor allem dazu, einen erneuten Einstieg in die Frage nach einem zeitgenössischen, künstlerischen, experimentellen Schreiben im Zeitalter der Digitalität, der Transmedialität und Transkulturalität, das mit Begriffen/Konzepten operiert, reflektiert, dass die Herkunftsfrage der Autorschaft, der Originalität, der Kreativität problematisiert und zwar im Anbetracht aller künstlerischen Diskurse, in denen eine solche Diskussion ja schon lange statthat, nur eben nicht in der Literatur. Die orientiert sich immer noch an den bahnbrechenden Errungenschaften des 18. Jahrhunderts, wie z.B. der Erfindung der Subjektivität und des Genies. Es geht nicht darum Inhaltsfragen zu klären, sondern das literarisch-künstlerische Schreiben anzuschließen an kunst- und kulturwissenschaftlichen Diskussionen im digitalen Zeitalter und mitsamt seiner politischen Dimension. Und hierbei geht es nicht nur um den Nutzung oder Beschreibung digitaler Prozesse, sondern die veränderten literarisch-künstlerischen Produktionsbedingungen. Ist das ein Abgesang? Nein, vielmehr eine Ermunterung, ein Anschluss, eine Aufmerksamkeit gegenüber dem, was passiert, das aber keinen Namen hat. Kein Konzept? Das zeitgenössische, konzeptuelle Schreiben in Deutschland beginnt sich erst langsam einen Namen zu geben.

 

Erschienen im Dossier Konzeptuelles Schreiben, Edit 63, Winter 2013/14

 

1 Der Einsatz von Google-Suchmaschinen als Materialbasis für Gedichte.
2 Das „Auslöschen“ eines Textes wird zur Grundlage eines neuen Textes genommen, auch hier wird das „Material“ für den Text aus einem schon bestehenden Text gewonnen. Für den deutschsprachigen Raum vgl. Alexander Gumz, Uljana Wolf/Christian Hawkey u.a.